Praktikum Theater Ulm Spielzeit 2013/2014,
Jahr:
2013/2014
In der Spielzeit 2013/2014 gab es am Theater Ulm erstmals ein Mehrgenerationenprojekt, das ich als Praktikant begleiten durfte. Gemeinsam mit der Theaterpädagogin Barbara Frazier übernahm ich die Rolle des Spielleiters, Dramaturgen und Regisseurs und erhielt dabei Einblicke in den Arbeitsalltag eines städtischen Theaterbetriebs.
Das Projekt:
„Meine Eltern waren der Mittelpunkt der Welt und ich habe versucht, nicht aufzufallen.“ Im ersten Mehrgenerationenprojekt des Theaters Ulm ging es um das Thema Erziehung. Ganz gleich, ob rückblickend, vorausschauend, urteilend, zweifelnd oder stolz - die 40 Teilnehmer*innen zwischen 7 und 80 Jahren kontten in Sachen Kindheit, Elternschaft und Erziehung alle mitreden - darüber, wie es war, wie es ist, wie es sein soll und vor allem wie es nicht sein soll.
Vorbericht von SWR4:
"Mehrgenerationenprojekt am Theater Ulm" von Katja Stolle-Kranz. Veröffentlicht: 2014.
Pressestimmen &
Rezessionen
Augsburger Allgemeine Zeitung, 13.01.2014
ULM
Das Mehrgenerationenstück „Ihr kennt die Regeln!“ stellt im Podium des Theaters Ulm wichtige Fragen zum Thema Erziehung. Und findet auch humorvolle Antworten. Von Dagmar Hub
Er war der Willkür seiner Eltern ausgesetzt. Wie sollte er da ein guter Vater werden, fragt sich der gescheiterte Vater (Peter Reinhard). Seine emotionale Unberechenbarkeit, die sich als Angst und Spannung über die Familie legt, sobald er nach Hause kommt – er wollte sie nicht. Innerer Druck führte zu unerträglichen Entladungen. Eltern, sagt das erste Mehrgenerationenprojekt des Theaters Ulm „Ihr kennt die Regeln!“, geben ihre Fähigkeit oder Unfähigkeit, zu leben und zu lieben, an ihre Kinder weiter. Barbara Frazier und Marco Graša formten aus den Erziehungserfahrungen von 40 Laienschauspielern vom Grundschul- bis ins Rentenalter einen tollen Abend über Erziehungsmaßnahmen, über ihre Folgen und den Markt der Erziehungsratgeber, die jährlich einen Millionenumsatz generieren.
Wie ganz anders der Abend funktioniert, zeigt der erste Blick: Die Fläche des Podiums ist bestuhlt mit den originalen grünen Drehstühlen des Theater-Architekten Fritz Schäfer. Die Zuschauer sitzen voreinander, nebeneinander, umeinander, gegenüber, ganz nach Belieben und Drehrichtung der Sitzmöbel. Die Spielfläche umgibt das Publikum – die Ränder des sechseckigen Raumes. Hier passiert das Mehrgenerationenstück um Erziehung, so unterschiedlich sie sein mag.
Der perfekte Vater? Drei Jungs beschreiben ihn, den beruf erfolgreichen Mann, groß, stark, vertrauensvoll, mit dem verspielten Kind im Mann, versiert im Babyschwimmkurs und auf dem Ponyhof; er muss Indianer spielen können und viel Geld verdienen. Eine unlösbare Aufgabe.
Zwischen Liebe zum Kind – und Hass auf das kleine Monster
Nahezu unlösbar auch die Konflikte der alleinstehenden jungen Mutter (Sandra Kempter) – 24 Stunden täglich fürs Baby da, vereinsamt, zerrissen zwischen mütterlicher Liebe zum Baby und irrem Hass auf das kleine Monster – und der Witwe (Annette Neulist): Sie fühlt sich überfordert im Alltag zwischen dem Wunsch, alles richtig zu machen, und den Erfordernissen des täglichen Lebens.
Dazwischen die Objekte der Erziehung, die Kinder: Bente, Julian, Oona, Arieta und all die anderen; fordernd, witzig, nachdenklich, und vor allem laut sind sie. Sie sind nicht nur Kinder, sie sind auch künftige Väter und Mütter. Wie denken sie sich Erziehung? Sind Schokolade und Gummibärchen bis zum Abwinken wirklich die wichtigsten Erziehungsziele? Wie Erziehung zum Paradies wird, findet auch das
Mehrgenerationenprojekt nicht heraus. Aber am fröhlichen Ende kann jeder auf jeden zugehen, man spielt unbeschwert miteinander. Und das Gefühl der Machtausübung, das über dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern liegt, löst sich auf.
SWP - Ulmer Zeitung
Autor: CHRISTINA KIRSCH, 13.01.2014
Praxis und Konsequenzen der Erziehung: Das Mehrgenerationenprojekt "Ihr kennt die Regeln!" hatte im Podium des Theaters Premiere.
"Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast", betet die Familie streng. Tochter und Sohn haben den Tisch gedeckt, die Eltern sitzen sich an den Stirnseiten gegenüber, gesprochen wird nicht. Die Anfangsszene des Stücks "Ihr kennt die Regeln!" erinnert an das Klischee einer pietistischen Pfarrersfamilie vor 100 Jahren. Der Hausherr schreitet zu Tisch, wenn alles fertig ist. Und mitten in der größten Beklemmung brüllt er aus unerfindlichem Grund los. Der Vater darf das. Die Mutter zuckt zusammen, die Kinder versuchen, unsichtbar zu sein.
Solche Tischszenen waren einmal und wirken doch fort. Das erste Mehrgenerationenprojekt am Theater Ulm erzählt in einzelnen Spielszenen vom Scheitern und vom Glücken des Erziehens. Das Publikum sitzt auf Drehstühlen mitten im Raum. Am Rand gruppieren sich kleine Ensembles, die das Idealbild von Erziehung spielen. "Wir wollen unsere Kinder niemals fallen lassen." Und schon plumpsen alle Kinder zu Boden. Erziehung gleitet Eltern eben doch manchmal aus den Händen. Auch die Kinder erzählen aus ihrer Sicht von Erziehungsversuchen. 40 Laienspieler im Alter von 7 bis 77 Jahren haben Barbara Frazier und Marco Graša zu einem üppigen, bisweilen charmant überbordenden Spiel vereint.
Moderiert wird die Show von einer Stimme aus dem Off. Diese "Übermutter" greift lobend und tadelnd ein. Frau Übermutter moderiert auch ein interaktives Lernspielchen, bei dem das Publikum Filmszenen erraten muss. Das ist die banalste Idee des Abends und erinnert sehr an die Spieleabende von Klassenfahrten. Andere Sequenzen berühren ob ihrer Authentizität und wirken intim. Ein kleines Mädchen übt auf ihrer Blockflöte und bekommt es nicht hin; wutentbrannt zerbricht es die Flöte. Eine junge Single-Mutter fühlt sich mit ihrem Säugling schrecklich alleine, ein Kind spricht mit seiner Puppe. Viel Einsamkeit und Liebe ist zwischen dem Paar, das durch den Tod des Vaters getrennt wurde.
Mit einem Augenzwinkern nehmen die Akteure die Erziehungsberatungsliteratur aufs Korn und lassen die Papiere mit den Tricks und Tipps zur guten Erziehung als Papierflieger durch den Raum fliegen. Der pietistische Brüll-Vater im Karopullunder dreht dann plötzlich durch, und sein Sohn hängt wie ein Gekreuzigter an der aufgestellten Tischplatte. Das Bild mit dem unglücklich erzogenen Kind, das keine Miene verzieht, ist das stärkste des Abends. Das Stück endet als ausgelassenes Fest mit Vorlesen, Tanzen, Brettspielen und Kissenschlacht, in der die Stimme der Übermutter unter geht. Dieses Theater mit drei Generationen Schauspielern hat Charme und Potenzial.